Ein Andermal

Hervorgehoben

Ein Andermal

Bewahre mich vor der Beschäftigungstherapeutin, oh Herr!
Sie meint es gut, aber ich habe zu viel zu tun, um Körbe zu flechten.
Einen Tag möchte ich noch einmal erleben, den Julitag, an dem Sam und ich Beeren sammeln gegangen sind. Ich war achtzehn. Mein Haar war lang und dick. Und ich flocht es zu einem Zopf, den ich mir um den Kopf wand, damit es sich nicht im Dorngebüsch verfing. Aber als wir uns zur Rast in den Schatten setzen, ließ ich es herunter, und es fiel mir auf die Schultern. Und da machte mir Sam einen Antrag. Vielleicht war es ein bisschen ungehörig von mir, ihn so mit meinem Haar verliebt zu machen – aber wir haben eine gute Ehe geführt…….
Aha, da kommt sie, die Therapeutin, mit Schere und Klebstoff. Ob ich es mit einer Ausschneidearbeit versuchen möchte? „Nein“ sage ich, „ich habe keine Zeit“.
„Unsinn“, sagt sie, „Sie werden noch sehr, sehr lange leben“. Das meine ich nicht. Ich meine, dass ich mein Leben lang viel getan habe, für andere, mit anderen. Ich muss einiges nachholen, in meinem Denken und Fühlen.Zum Beispiel was Sam´s Tod betrifft.
Kurz vor dem Ende fragte ich ihn, ob ich irgendetwas für ihn tun könne. „Ja“, sagte er, „löse Dein Haar“. Ich tat es und er streckte die Hand aus…. die durchsichtige Haut, man sah die blauen Adern….. und streichelte mein Haar. Wenn ich die Augen schließe, kann ich es fühlen. „Machen Sie bitte die Augen auf“, sagt die Therapeutin, „Sie wollen doch nicht den ganzen Tag verschlafen“.
Sie will wissen, was ich früher gemacht habe, stricken, häkeln? Ja, ich habe das alles gemacht, und gekocht und geputzt, und fünf Kinder aufgezogen, und alles mögliche erlebt,
Schönes und Schreckliches. Ich muss über diese Dinge nachdenken, muss sie in den Fächern meines Geistes ordnen. Die Therapeutin zeigt mir glitzernde Perlen.  Sie fragt, ob ich vielleicht Schmuck machen möchte? Und weil sie ein liebes Kind ist und es gut meint, sage ich: „Ja, vielleicht, ein andermal“.

(VerfasserIn unbekannt)

Die Bitte einer Mutter

Hervorgehoben

An jenem Tag, an dem Du mich als alter Mensch
siehst und ich nicht mehr ich bin,
hab Geduld mit mir und versuche mich zu verstehen.
Wenn ich mich beim Essen bekleckere,
mich nicht richtig anziehe, hab Geduld.

Denke zurück an die Stunden, die ich damit
verbracht habe, es Dir damals beizubringen.
Wenn ich mich mit Dir unterhalte und ich mich
zum hundertsten Mal wiederhole,
unterbrich mich nicht, hör mir einfach zu.

Als Du klein warst, habe ich mir Dein Geplapper ständig
und überall angehört, ob Zuhause, im Geschäft oder bei Bekannten.
Falls ich mich nicht wasche, dusche oder
bade, schimpf nicht mit mir und vor allem
beschäme mich nicht. Erinnere Dich daran, wie
oft Du Ausreden hattest und wie oft ich dich
ans Baden gehen erinnern musste.

Wenn Du meine Ignoranz gegenüber neuen
Technologien bemerkst, bitte ich Dich mir die
nötige Zeit zum Erlernen zu geben.
Und bitte lache währenddessen nicht über mich.
Ich habe Dir so viele Dinge beigebracht …
Wie man richtig isst, wie man sich benimmt,
wie man spricht, wie man sich anzieht und wie
man sich in dieser Welt zurechtfindet.

Sehr viele dieser Dinge sind das Ergebnis
der Kraft und Zusammenarbeit von uns beiden – Dir und mir.
Zwing mich nicht zum Essen, wenn ich es nicht will.
Ich weiß am besten, was ich brauche und was nicht.
Wenn mich irgendwann meine müden Beine nicht
mehr schnell gehen lassen, reiche mir deine
helfende und stützende Hand, genauso wie ich
es für Dich getan habe, als Du laufen gelernt hast.

Falls ich irgendwann vergesslich werde oder
den Faden unserer Unterhaltung verliere, gib
mir die nötige Zeit, um mich zu erinnern. Und
falls ich mich doch nicht erinnern kann,
werde nicht nervös und böse; ich glaube
nämlich, dass die Unterhaltung nicht das
Wichtigste ist, sondern die Nähe zueinander
und dass Du mir zuhörst.

Eines Tages wirst Du erkennen, dass ich trotz
der Fehler, die ich gemacht habe, nur das Beste für Dich wollte
und dass ich versucht habe, Dir deinen Weg
durch diese Welt so gerade und eben wie möglich zu machen.
Du darfst weder böse noch traurig sein und
Dich auch nicht unfähig fühlen, wenn Du mich so siehst.
Du musst nur an meiner Seite sein,
versuchen mich zu verstehen und mir helfen,
so wie ich es gemacht habe, als Du in diese Welt geboren wurdest.

Jetzt bist Du an der Reihe, mich auf meinem
schwierigen, nicht immer geraden und ebenen
Weg zu begleiten. Hilf mir diesen Weg mit
Liebe und Geduld zu Ende zu gehen. Ich werde
es Dir mit einem Lächeln und mit der
unendlichen Liebe, die ich immer für Dich
hatte, habe und haben werde DANKEN!

Autor unbekannt